
Alle Menschen werden Künstler
Essay zur BürgerSingStunde 13. September 2017 im Dresdner Albertinum
Liebe Mitmenschen,
mit der BürgerSingStunde begründen, vielmehr besingen wir gemeinsam eine neue Musikkunst: Die MenschenMusik.
Theodor W. Adorno bezeugte im Jahr 1968, dass die Chormusik ein »künstliche Wärme« erzeuge, die »kollektive Selbstzufriedenheit« befördere und ein »falsches Bewusstsein« hervorrufe. Die Chormusik erwecke den Anschein und Glauben, dass der Einzelne »in Einverständnis und Harmonie von Mensch zu Mensch aufgehoben«, obwohl eben solche Harmonie in der »Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft nicht vorhanden« sei.
In Dresden im Jahr 2017 beobachtete der Kabarettist Philipp Schaller in seiner Rede zur Eröffnung des Kulturhauptstadtbüros eine gesellschaftliche Erscheinung, die seit ein paar Jahren montags Dresdens Innenstadt kennzeichnet als einen »Ort der Gemeinschaft, des WIR-Gefühls«. Es sei ja geradezu beruhigend, dass Roland Kaiser inzwischen wieder mehr Zuschauer anlocke als diese wöchentlich stattfindende Begehung innerstädtischen Terrains, wobei — so Schallers Vermutung — es zwischen beiden »eine nicht unbeacht-liche Schnittmenge« gäbe. Analysieren Adorno und Schaller ähnliche Symptome?
Es wird viel geredet in letzter Zeit über eine Debatten- und demokratische Streitkultur, über fehlende funktionierende Formen und Formate, gemeinsam überhaupt noch in einen gesellschaftlichen Dialog zu kommen. Die Musikkunst hat über die Jahrhunderte als Kommunikationsmittel immer wieder für gesellschaftlichen Dialog und Austausch gesorgt. Zunächst schmückte und dekorierte sie über ein Jahrtausend hinweg Kirche und Aristokratie, diente daneben aber auch als Form des Erkenntnisgewinns. Das „Konzert“ war letzten Endes einer „wetteifernder Streit“ um musikalische Meinungen und Ideen. Im Streichquartett übte man das gepflegt-vornehme Konversieren unter vier Leuten. Mit dem aufstrebenden Bürgertum im 19. Jahrhundert begann die Kluft zwischen damaliger Kunst und dem Leben. In der Musikästhetik entstand aber gleichzeitig ein Diskurs über eine „Musik für Alle“ und welche Kategorien diese enthalten müsse, wenn sie eine „democratische Musik“ sein solle. Das „Volkslied“ wurde zum ersten Sinnbild einer Volksmusik. Bis heute hält dieser Diskurs an — wobei er inzwischen still zu stehen scheint, weil die Kluft kaum noch größer werden kann.
Die Chorkunst hat es bis heute verschlafen, auf ein Niveau zu kommen, das über „künstliche Wärme“ hinauskommt. Wenn man sich die heutige Chormusik, wie beim unlängst über die Bühne gegangenen World Choir Symposium in Barcelona anschaut bzw. anhört, so erlebt und erleidet man ein perfektioniertes, kollektiv homogenisiert dressiertes Synchronschwimmen unter dem Deckmantel einer vermeintlichen Botschaft der „Farben des Friedens“ — aber keine Kunst mehr. Das allgemeine Wiedererstarken volksliedhaften Tuns zeigt nur den Mangel wirklichen künstlerischen Ausdrucksmaterials unserer Zeit.
Andererseits hat es eben auch die zeitgenössische Musik fast vollendet geschafft, sich von den Menschen zu entfernen — sie bildet nach wie vor einen elitären Zirkel in der Gesellschaft und erreicht damit nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Wie kann allein in diesem Mikrokontext zweier eigentlich zusammengehörender Teilbereiche einer Gesellschaft noch ein Wir-Gefühl entstehen?
Ein Wir-Gefühl, das sich nicht gegen einen gemeinsamen Feind richtet oder im gemeinsamen Glückstaumel zu dem immer gleichen Gegröle führt, bei dem das Individuelle in einem Kollektiv aufgeht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet scheinen die Analysen Adornos wie Schallers in dieselbe Richtung zu gehen.
Die Lücke kompositorischen Materials wollen wir mit dieser BürgerSingStunde und den in Auftrag gegebenen Werken beginnen zu schließen. Was wir heute hier versuchen wollen, ist ein musikalisches Wir, dass sich aus der natür-lichen Diversität der Menschen speist, dass das Unreine und Unterschiedliche als einen Wert und nicht als Makel erkennt, bei der das Chorische etwas Diverses ist, dass die vielfältigen Feinheiten menschlichen Daseins zeigt. Eine Musik, bei der man die Persön-lichkeit nicht verleugnet, sondern bei der sich die individuellen Stimmen als persönlich-keitsdurchdringende Elemente in die Kunst einbringen. Der Feind kann hier — wenn überhaupt — nur das Banale, Nichtssagende und Simple sein.
Die Musik, die Sie heute Abend hören und an der Sie auch mitwirken können, erweitert den Bestand einer diversen, disparaten, dialogisierenden, aber vor allem auch barrierefreien Musikkunst. Eine Musik, die zugänglich und trotzdem Kunst ist. Diese erzeugt ein Harmoniegefühl nicht durch Homogenität und Reinheit, sondern umgekehrt durch mikrotonale Disparitäten und Schwebungen wie bei Idin Samimi-Mofakhams Research oder Richard Röbels Mit-Be-Stimmung. Oder sie zeigt die Vielfalt menschlicher Temperierungen und pluralistischer Stimmungen, die, statt der Suche nach einer mitteltönigen Reinheit, Wahlfreiheiten der Interpret*innen zulässt wie bei Peter Motzkus’ zweitstimme 598.mdb krähwinkel oder Agnes Ponizils …über die Würde des Menschen.
Und Sie hören eine Musik, die zum Mitmachen animiert, ohne in schunkelnde Mitklatsch-varianten zu verfallen, wie bei Steffi Weismanns Fountain oder Christian Kestens Das Megaphon. Und natürlich kritisiert sie auch: stilistisch mit Worten und Inszenierungen heutiger Gesellschaftsverhältnisse, wie bei Harald Muenz’ Spottchor des volkes weise, Gerhard Stäblers Hitlerchoral IV: „Ein’ große Hilf war uns sein Maul“ oder Johannes Voits mundgerecht. Wenn aber jegliche sprachliche Kommunikation zum Scheitern verurteilt ist, hilft Michael Edward Edgerton mit neuen artikulatorischen Vokalakrobatiken in sirene segmenti weiter.
Bei einer BürgerSingStunde darf auch das Traditionelle in der Moderne nicht fehlen. Natürlich muss in einem Demokratie-Programm auch Hymnisches vorkommen. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ treffen auf „auferstandene Ruinen“, vernetzt mit der Kinderhymne Hanns Eislers und Bertolt Brechts.
Suchen Sie sich aus, wo Sie mitsingen möchten: bei Hymnen ist eh alles gleich“ Hymne bleibt Hymne. Der Text ist — sofern nicht fremdenfeindlich, rassistisch oder sexistisch — nebensächlich. Und wem dieses Hymnen-Singen zu erschreckend ist, findet bei der „Hymne für ein anderes Land“ von Gerhard Stäbler vielleicht einen anderen Blick auf dieses Musikformat.
Die beiden Volkslieder In den Kerkern saßen und Die Gedanken sind frei erinnern Sie durch den Kontext, in dem sie dramaturgisch stehen, antinostalgisch an die demokrati-schen Freiheitsbewegungen im 19. Jahrhundert.
Schlussendlich steht noch am Ende dieses heutigen Programms ein komplett neues Format: der DemocraCycle des israelisch-amerikanischen Komponisten Amir Shpilman. Hier wird das gemacht, was eigentlich eine humane Gesellschaft auszeichnen sollte. Aktives Zuhören, Reagieren und Agieren in einem ausgewogenen Verhältnis. Statt Kollektivismus entsteht ein Wir-Gefühl durch gegenseitige Übernahme von Verantwortung, denn wenn eine Person nicht aufpasst und stockt, leidet der ganze musikalische Kreislauf. Wie schön ist es aber, wenn jeder Mensch aktiv dabei ist und dann trotzdem ein Sog an gemeinschaftlichem Wir evoziert wird?
„Vox populi?! Der Klang der Demokratie“ hat die beiden Förderinstrumente Sachsens, Weltoffene Sachsen und Lokales Handlungsprogramm Demokratie leider nicht überzeugen können, diese Produktion zu fördern. Bei dem einen Förderprogramm war das Problem, dass die Kompositionen bei Antragsbeginn noch nicht vorlagen. Bei dem anderen, dass wir die Kompositionen bei Antragsbeginn schon in Auftrag gegeben hatten und es „nicht erkenntlich“ sei, dass die Kompositionen und Formate „wirklich demokratiebildend wirken würden“. Letztlich haben nun alle Komponist*innen dieser Produktion ehrenamtlich — das heißt honorarfrei —, die ausführenden Künstler- und Wissenschaftler*innen mit geringen Aufwandsentschädigungen arbeiten müssen. Ist dies reiner Altruismus? Ich glaube nicht! Denn »[b]ei der ›Diktatur der Kunst‹ geht es um die liebevollste Herrschaft einer Sache, wie Liebe, Demut und Respekt, zusammengefasst und gipfelnd in der Herrschaft der Kunst. In der Allmacht der Kunst geht es nicht um das Machtgehabe des Künstlermenschen oder um die Machtfantasien von Selbstverwirk-lichern und Realitätsfanatisten, sondern um die antinostalgische, alternativlose Macht der Kunst, also der Sache. Kunst stellt die Machtfrage, nicht der Künstler.« Die Gestalter und Macher dieser Produktion unterwerfen sich diesen von Jonathan Meese formulierten Maximen der Kunst (2008). Da kann eine Finanzdiktatur des Geldes, erst recht nicht eine Diktatur der Bürokratie und Verwaltung mithalten.
Aber vielleicht ist die Kunst gerade so die beste Vorbereitung zur Demokratie und immer schon jeder Demokratie voraus. Sie muss die Menschen mitnehmen und sie weder sich selbst über lassen noch denen überantworten, die aus den überall verfügbaren Medien ihre Gewinne ziehen und denen weder an der Kunst noch an den einzelnen Menschen gelegen ist, sondern deren einziges Ziel Gewinnmaximierung heißt. In dieser Hinsicht wünsche ich mir, dass alle Menschen Künstler werden, geleitet allein von der Kunst.
Wir werden uns daher auch zukünftig für die Weiterentwicklung der BürgerSingStunden im Rahmen unserer künstlerischen Arbeit einsetzen: denn dies ist nicht nur die Möglichkeit, sich über vielfältige neue Artikulationsweisen der Neuen Dresdner Vokalschule zu informieren, sondern gar aktiv an ihnen teilzuhaben. Die individuellen Stimmen, die so viel schon über eine Person verraten, zu erheben und wertebringend für die gesamte Gesell-schaft einzusetzen. Damit Ludwig van Beethoven seinen Rang als Begründer eines »geistigen Zusammenhangs mit den Ideen der Demokratie« weiterhin in Kontakt gebracht werden kann, seine 9. Sinfonie aber nicht mehr als Alibi herhalten muss allein für repräsentative Zwecke eines G20-Gipfeltreffens, wie unlängst in Hamburg geschehen. Und wir wahrscheinlich erst alle Schwestern und Brüder werden können, wenn wir alle Künstlerinnen und Künstler geworden sind: Zurück zur Kunst! Zurück zum Menschen!
„Vox populi?! Der Klang der Demokratie“ ist natürlich erstmal ein Experiment. Natürlich ist es ein Wunschglaube, mit diesem Projekt eine neue Musikkunst zu begründen. Es liegt ja nicht nur an uns, sondern am gemeinsamen rezipierenden Suchen und Finden der beteiligten Personen. In diesem Zusammenhang möchte ich an dieser Stelle im Namen des gesamten Ensembles von AUDITIVVOKAL DRESDEN ausdrücklich meinen Dank an zahlreiche Menschen und Institutionen richten, ohne die dieses Projekt gar nicht in dieser Form möglich gewesen wäre: an die Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst des Freistaates Sachsen, Frau Dr. Eva-Maria Stange, die durch die aktive Schirmherrschaft eine große Unterstützung war, Frau Dr. Constanze Demuth, wiss. Mitarbeiterin am Institut für Philosphie der Technischen Universität Dresden, die mit kompetentem Rat und bei der Entwicklung unserer Idee tatkräftig mitgewirkt hat. Sowie bei Eric Hattke, dem Vorsitzen-den des Atticus e. V. und Botschafter Sachsens der Initiative Offene Gesellschaft, der mit Enthusiasmus und Offenheit wesentliche organisatorische Impulse in das Projekt gegeben hat. Für weitere Mitgestaltungen verschiedenster inhaltlicher Art danke ich herzlich Christine Ruby, Berit Kramer, Cornelius Uhle, Peter Motzkus und allen beteiligten Künstler*innen! Großer Dank geht an die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, ihrer Generaldirektorin, Frau Dr. Marion Ackermann, sowie ihren Mitarbeiter*innen für die erteilte Gastfreundschaft. Es gibt keinen besseren Ort in Dresden als mitten in einem Haus der (moderner) Kunst. Und es erscheint mir im weiteren Sinne besonders sinnvoll, ein kurz vor seinem Tod geäußertes Statement des ehem. Generaldirektors der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Dr. Martin Roth, mit dieser Produktion aufzugreifen:
»Ich verstehe Kunst und Wissenschaft als wesentlichen Bestandteil unseres zivilen Lebens, weil viel bewirkt werden kann durch künstlerische und kreative Prozesse. Ich bin überzeugt, dass Kunst und Kultur unverzichtbare Grundlage einer Gesellschaft im demokratischen und friedlichen Zusammenleben sind. Je kreativer eine Gesellschaft ist, umso fähiger ist sie, aufzustehen und damit zu überleben.«
So möchte unser neues Programm heißen: „Vox Artes! Der Klang der Kunst“. Auf dass sie eine „künstlerische Wärme“ statt einer „künstlichen“ ausstrahle und zu „individueller Selbstzufriedenheit“ in einem disparaten, heterogenen Gesellschaftsverbund führe.
In diesem Sinne: viel Freunde, Wärme und Zufriedenheit beim Zuhören und Mitwirken der Ensemblekunst des 21. Jahrhunderts!
Ihr Olaf Katzer
Künstlerischer Leiter AUDITIVVOKAL DRESDEN